
Tüt, Tüt, Tüt, Tüt ...
Saatgutarbeit jenseits des Gärtnerns
Bei den meisten Bäuer*innen und Gärtner*innen zählt der Winter als "ruhige Jahreszeit". Auf den Dreschflegel-Höfen gilt das nicht wirklich, denn nach der Saatgutreinigung wird auch das Abfüllen in die Portionstüten größtenteils auf den Höfen gemacht. Die Idee dahinter ist, dass das Saatgut von der Aussaat der Elternpflanzen bis zur versandfertigen Tüte in der Hand der Gärtner*innen liegt. Dabei werden große Partien anderer Dreschflegel-Höfe seit vielen Jahren z. T. auf meinem Betrieb abgefüllt, auf dem eine vollautomatische Abfüllmaschine steht. Auf allen Dreschflegel-Höfen gibt es aber weiterhin auch Handabfüllung kleinerer Mengen oder großer Stückzahlen von Saatgut, welches sich mit unserer Technik nicht maschinell abfüllen lässt.
Wie bei den Pflanzen gibt es auch beim Saatgut eine unermessliche Vielfalt: Kugeln, Stäbchen, Nadeln, Plättchen, Häkchen, Puschel, Krönchen, ... und von lupenklein bis daumendick. Bei der Handabfüllung kann alles, was rieselfähig ist, mit Messlöffeln verschiedener Größe in die Tüte gefüllt werden. Wenige große Körner, wie Kürbissamen, von denen je zehn in die Tüte kommen, lassen sich noch auf zwei Blicke zählen, anderes mit einer feinfühligen Prise portionieren. Wenn Tausende von Tüten zu füllen sind, braucht es gut durchdachte Arbeitsabläufe, eine ausgefeilte Arbeitsplatzeinrichtung mit kurzen Greifwegen und einige Übung. Dann können in einer Stunde z.B. von Paprika bis zu 1.500 Tüten gefüllt werden oder 600 Portionen Buchweizen à 200 g. Nach dem Füllen geht es ans Zukleben der Tüten. Geschieht dies von Hand, dauert es etwas länger als das Befüllen. Schneller geht es mit einem "Klebekarussell", einer einfachen Maschine, in welche die Tüten eingesteckt werden und dann auf einem Rad im Kreis herum wandern, mit dem Verschlussstempel versehen werden und am Ende fertig in die Kiste fallen. Auf vier Dreschflegel-Höfen steht ein solches Gerät zur Verfügung. Dort kleben auch einige der benachbarten Betriebe ihre bereits gefüllten Tüten zu.
Bei der maschinellen Abfüllung werden alle diese Schritte auf einmal erledigt, genauer gesagt in acht Vorgängen, für welche die hintereinander auf einem Drehkranz geführten Tüten an acht Stationen anhalten, so dass etwa jede Sekunde eine fertige Tüte auf die Ablage fällt. Für die maschinelle Abfüllung eignet sich nur rieselfähiges Saatgut – also keine Schwarzwurzeln, Ringelblumen, Tomaten ... Je nach Art sind Füllmengen von 0,1 g bis 76 g möglich! Entsprechend fahren wir auf der Maschine – ein 78 Jahre altes, rein mechanisches Wunderwerk der Maschinenbaukunst – verschiedene Abfüllsessions. Wir, das sind derzeit außer mir noch Stefi und Franzi, mit denen ich mir die Schichten teile.
Das Saatgut wird nochmal geprüft: Ist es sauber genug, stimmt die Menge, sind alle Unterlagen korrekt, Lieferschein, EU-Biobescheinigung, ggf. Pflanzenpass, sind alle benötigten Tüten da? Dann wird der Abfüllstempel gesetzt und die Maschine durch mehrfaches Justieren und Kontrollwiegen auf die Füllmenge eingestellt. Wenn alles stimmt, sagen wir "abfahren", und die eigentliche Arbeit beginnt: Laufend nehmen wir die fertigen Tüten bündelweise von der Ablage und packen sie in Kartons. Laufend braucht es einige Konzentration: Bei jedem Kartonwechsel heißt es im richtigen Moment das Zählwerk ablesen und den Karton beschriften, zwischendurch immer wieder Kontrollwiegen, das Tütenmagazin nachfüllen, ggf. Saatgut nachfüllen, Kartons wegpacken, darauf achten, dass noch genug Leim im Leimwerk ist, und immer mit dem Ohr dabei sein, ob alles glatt läuft. À propos Ohr: Auch wenn es eine intensive Arbeitssituation ist, sie kann auch etwas Meditatives bekommen und hat so schon zu einem Musikstück inspiriert – zum Rhythmus der Maschine.
Menschen machen Fehler, Maschinen auch. Sowohl bei der Handarbeit als auch bei Maschinenabfüllung kann es unter Tausenden von Tüten auch mal zu Fehlfüllungen, schlimmstenfalls zu einzelnen leeren Tütchen kommen. Unser Job ist es, diese zu erkennen und auszusortieren. Wenn eine Tüte, die 50 g Bohnen enthalten sollte, leer ist, fällt das sofort auf – bei 0,2 g Thymiansamen kann die uns aber schon mal durchrutschen. Wenn sie dann gar noch versendet wird, gibt‘s eine Reklamation mit folgender Nachlieferung. Aber was, wenn etwas Falsches in einer Tüte ist, es steht Möhre drauf, ist aber Radieschen drin? Weder die Maschine noch eine Handabfüller*in wechselt im Prozess das Saatgut, also kann so ein Fehler eigentlich nicht passieren. Doch eine falsche Tüte kann uns schon mal dazwischen rutschen, was zum gleichen Effekt führt.
Aber am Stempel werdet ihr sie erkennen: enthält er die Artikelnummer der bestellten Sorte, ist diese auch in der Tüte drin, egal, was drauf steht – alles klar?
An einem verschneiten Nikolaustag 1997 hatte die Höller MB 4, so die Bezeichnung der Abfüllmaschine, bei uns Einzug gehalten, damals noch in einem alten Pferdestall. Bereits im nächsten Jahr wurden 40.000 Tüten von 100 Sorten abgepackt. Inzwischen sind wir in einer bequemen Abfüllwerkstatt bei jährlich bis zu 200 Sorten mit 300.000 Tüten angelangt. Damit sind wir aber an der Grenze dessen, was ohne weitere ausgebildete Maschinenführer*innen und Nachtschichten zu schaffen ist. Einige Dreschflegel lassen daher einen Teil ihrer Sorten bei einer Bio-saatgutabfüllerin in der Nähe unserer süddeutschen Betriebe abfüllen. Saatgut weniger Sorten wird von zwei Betrieben bei dem Verein Aufwind e. V. in Witzenhausen korngenau in die Tüten gezählt. Langfristig wollen wir bei Dreschflegel aber auch auf mehr Höfen weitere Abfüllmöglichkeiten haben, damit unsere alte Höller kein kritisches Nadelöhr bleibt.
Text von Quirin Wember
